Texte

INSEL

Wir sind eine Insel,
Sagst du,
Ein jeder für sich.

Zwischen den Inseln das Meer,
Wage ich einzuwerfen.
Von einer zur nächsten.

Du lachst.
Du sagst.
Ist doch nur Wasser.

Und siehst nicht
Die Träne
Die von meiner Wange
Fällt
Auf deine Hände.

DAS MEER

Erinn sieht Klaus an. Wo ist das Meer? Klaus versteht sie nicht. Es ist früh am Morgen. Sechs Uhr. Noch immer dröhnen seine Trommelfelle von den Bässen. Erinn hat vor den Boxen getanzt. Natürlich musste er zu ihr. Noch immer sind kleine Schweißtropfen in den kurzen Haaren an ihrer Stirn zu sehen. Sie hat ihren Kopf hin und her geworfen zur Musik. Schnell. Wütend. Wunderschön. Zwischendurch hat sie einem der Männer, die sich gewollt unauffällig in ihrer Nähe herumdrückten, das Glas aus der Hand genommen und mit ihren Augen geblitzt. Mit ihren Augen geblitzt. Das klingt ja so bescheuert. Aber irgendwie stimmt es. Aus ihren Augen schossen Blitze und so erhob keiner Einspruch, als sie den teuren Alkohol in ihren roten Mund kippte. Klaus war pleite bis auf sein Hemd, doch als sie auf ihn zugekommen war, hatte er sein Glas hingehalten, ohne zu zögern und ohne dass sie ihn anblitzen musste. Das hätte er nicht gewollt. 

Und jetzt sitzen sie nebeneinander auf einer Bank. Über ihnen der Himmel. Der Himmel über ihnen. Der Himmel über Berlin.

Und Erinn fragt wo ist das Meer. Klaus könnte sagen: Bei Warnemünde. Doch was soll das. Sie kommt von dort oben und hatte das Meer vor der Haustür. Hatte das Meer vor der Tür seit sie denken kann. Wellen, die sich an den Felsen unter dem Haus ihrer Eltern brachen. Das hat sie erzählt und mit den Händen beschrieben, wie die Wellen gegen die Steine schlugen. Was bedeutet Warnemünde für sie. 

Klaus sagt, das Meer liegt dort hinten. Er fragt, ob sie es hört. Erinn legt die Stirn in Falten und lauscht. Er stellt sich dieses Lauschen vor, hoch oben im Norden. Ein stilles Lauschen. Ein Zuhören wie er es noch nie gesehen hat. Sie nimmt es ernst, das Zuhören. In Berlin nimmt es keiner ernst. Wie auch. Man kann nicht zuhören. Wenn man zuhört wird man wahnsinnig. Erinn schüttelt den Kopf. Sie sagt, sie hört die Bäume, den Atem der Vögel. Sie sagt, sie riecht die Erde, das Gras, den unter einer alten Decke schlafenden Mann. Kein Meer. Sie sagt es fast erstaunt. Eher wie eine Feststellung. Klaus will sich verteidigen. 

Er sagt, das wisse doch jedes Kind, dass es in Berlin kein Meer gibt. Erinn sieht ihn an. Still. Klaus hält das Schweigen nicht aus. Es strengt ihn an. Er nimmt Worte zu Hilfe. Erklärt die Lage von Berlin in Deutschland, sagt, wo das Meer ist. Erinn schweigt. Klaus versucht die Stille von ihren Lippen zu küssen. Erinn weicht zurück. Sie fragt, was das soll. Klaus redet von Anziehungskraft, von Magie, von einem Kuss. Erinn sagt, man kann nicht küssen um abzulenken. Zumindest nicht sie küssen. 

Dann geht Erinn. Und mit ihr das Meer.

BEBEN

Der Himmel stahlblau.
Raumschiffe kreuzen,
Die Farbenpracht,
In der Sonne, tanzt.

Wir auf dem Gras,
Folgen mit unserem Blick
Und wissen
Dies ist das letzte Jahr.

Noch funkelt Metall.
Noch gibt es Himmel, Blumen und uns.
Doch die Häuser über unseren Köpfen
Werden fallen.

Ich liege nackt im Schnee.
Nur ein Traum sagst du,
Während du telefonierst,
Und spürst nicht die Häuser
Wanken unter uns.

AVA AUF DEM BAUM – Kurzgeschichte

Es war Herbst, als Ava in unsere Klasse kam. Ihre Haare flammenrot, flossen ihren Rücken hinab wie geschmolzenes Feuer.

Ava war anders als alle Mädchen, die ich kannte. Nicht dass ich allzu viele Mädchen näher kennen gelernt hatte. Ich war nicht schnell, nicht groß und reichlich dick. Im besten Fall beachteten mich die Mädchen nicht. Normalerweise sahen sie mich an, als würde vor ihren Augen gerade etwas Schleimiges, Ekelerregendes vorübergehen. 

Nicht so Ava. Sie sagte ein kurzes Hallo, als sie sich auf den freien Platz neben mir setzte. Nicht gerade ein Hallo, das zu einer Freundschaft einlädt, aber auch kein angewidertes Hallo. Kein Hallo, das man auch zu einer Wand sagen würde. Es war freundlich, ihre Stimme etwas rau, wie Seeluft. Nach dem Hallo sah Ava aus dem Fenster. Nichts Anderes. Ich meine: Sie holte nicht ihre Schulsachen heraus, legte sie nicht auf den Tisch, sah nicht mit betont interessiertem Ausdruck nach vorne zum Pult, während sie überlegte, ob der hübsche Julius aus der Parallelklasse sie gestern auf dem Schulhof angelächelt hatte. Sie sah aus dem Fenster, als ob sie gar nicht da wäre. 

Frau Michelsen machte natürlich Ärger. Sie war wie ein Spürhund, der sofort roch, wenn jemand nicht mit der vollen Aufmerksamkeit an ihrem Unterricht teilnahm. Dass eine Schülerin sich noch nicht mal die Mühe machte, so zu tun, als würde sie der Stunde folgen, das war zu viel für unsere Lehrerin. Sie hieb mit einem dicken Buch auf unseren Tisch, meinen und Avas. Der Knall schreckte mich aus meinen Beobachtungen. Ava aber hob nur leicht den Kopf und sah die Lehrerin fragend an. 

Ob sie uns wohl erklären könne, woran sie gerade dachte, fuhr Frau Michelsen sie an. Ava nickte. „An Robben.“ Frau Michelsen wollte konsterniert erfahren, weshalb Ava über Robben nachdachte, während wir gerade die Französische Revolution besprachen. Ava meinte, die Robben seien eben in ihrem Kopf, viel weiter vorne als Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Frau Michelsen war beeindruckt, da Ava offenbar doch etwas von ihrem Unterricht mitbekommen hatte. Sie riet ihr, sich den Robben ab– und der Revolution zuzuwenden. Ava lächelte leicht – und sah wieder zum Fenster hinaus.

Frau Michelsen ging zurück an die Tafel, während ich dieses seltsame Mädchen verstohlen musterte. Ich hätte hundert Fragen gehabt, aber wenn man auf der Abschussliste der Lehrerin steht, hält man sich mit geflüsterten Fragen besser zurück. 

Nach der Schule sah ich Ava davongehen, eine bunte, sackartige Tasche über der Schulter. Die anderen aus der Klasse blickten ihr hinterher. Fiona kreiste mit dem Finger am Kopf, um zu zeigen, dass die Neue eine Schraube locker hatte. Die Anderen lachten. Als sie mich sah, blähte Fiona die Backen auf und machte Affengeräusche. „Was glotzt du so, Brummi?“ Brummi, so nannten sie mich. Dommi, Dummi, Brummi. Ich senkte den Kopf und ging, bevor sie Kastanien aufheben konnten, für das Spiel „trefft den Dummi“. 

Ohne zu wissen weshalb, folgte ich Ava. Ich sah ihre roten Locken ein gutes Stück vor mir leuchten. Sie bog in den Stadtpark ein und ich dachte noch, wie perfekt ihre Haare zu den Farben der Herbstbäume passten. 

Dann war sie verschwunden. Ich blickte mich suchend um, bis ich ihre Tasche unter einem Baum lehnen sah. Ich legte den Kopf in den Nacken und da war Ava, weit oben in der Baumkrone. Sie lag mit dem Rücken auf einem Ast, ihre Beine hingen herunter. Es sah abenteuerlich aus, doch Ava war offensichtlich ohne Furcht. Im Gegensatz zu mir, dem schon beim Balancieren auf einer niedrigen Mauer schlecht wurde.

Ich weiß bis heute nicht, weshalb, doch aus irgendeinem Grund begann ich, ebenfalls auf den Baum zu steigen. Ich schwitzte und verlor immer wieder fast den Halt. Ava muss mich gehört haben. Ich habe geklungen wie eine Dampfmaschine. Sie sah nicht auf. 

Irgendwann saß ich auf einem Ast in ihrer Nähe. Ich musste erst zu Atem kommen.

„Hallo“, sagte ich. „Ich bin Dominik.“ 

„Ich weiß“, erwiderte sie schlicht. Keine Frage, warum ich dort war. 

„Was machst du hier?“ 

„Man ist dem Himmel so nah“, sagte Ava. 

„Kletterst du oft auf Bäume?“ 

Sie schwieg für eine kleine Weile. „Ich hab erst hier damit angefangen. Dort wo ich herkomme gibt es keine Bäume.“ 

Ich fragte, woher sie kam. 

„Von einer Insel. Einer Insel im Meer, das im Winter zufriert.“ 

„Leben dort deine Robben?“ 

Sie nickte. „Ganze Familien.“

„Ich habe noch nie eine Robbe gesehen“, meinte ich. 

„Dafür kennst du die Bäume.“ 

Ich schaute weg. „Eigentlich bin ich heute zum ersten Mal auf einen Baum gestiegen.“ 

Ava lachte leise. „Wie merkwürdig.“ 

Fast wurde ich wütend. Merkwürdig, ja, das musste sie gerade sagen. Ich machte mich daran, den Baum hinab zu steigen. 

„Bleib doch noch“, sagte Ava. 

Und ich blieb. 

Wir saßen schweigend, jeder auf seinem Ast. 

Und Ava fing an zu erzählen. Davon, dass sie sich in ihrer Familie fremd gefühlt hatte, bis ihre Mutter erzählte, dass sie Ava am Strand gefunden hat, irgendwo auf einer der hohen, weißen Dünen. Ava hätte dort gelegen wie ein kleines Tier, halb eingegraben im hellen Sand, nur herausleuchtend durch ihre schon als Baby so roten Haare. Sie hatte sich weggeträumt, zu der anderen Familie, die sie dort verloren hatte. Hatte sich vorgestellt, wie ihre richtige Mutter sie suchen würde, Tag um Tag. Als ihr Vater den Job als Fremdenführer verloren hatte, mussten sie die Insel verlassen und sind hierhergekommen, in die Stadt. 

„Nun werden sie mich nie mehr finden.“ 

Ihre Stimme klang traurig. Ich hätte sie gerne getröstet, aber wie tröstet man ein Mädchen, noch dazu, wenn man sich an einem Baumstamm festkrallt, darum betet, nicht runter zu fallen und langsam immer dringender aufs Klo muss?

„Ich muss nach hause“, sagte ich. 

Ava sah auf. „Schon?“ 

Es klang bedauernd und das machte mich froh. 

„Wir sehen uns morgen.“ Ich kletterte langsam und schnaufend nach unten, wo mein Ranzen neben Avas bunter Tasche lehnte, als teilten sie ein Geheimnis. 

Am nächsten Morgen kam ich zur Schule, möglichst spät wie immer, um den Anderen nicht die Möglichkeit zu geben, mir Gemeinheiten hinterher zu rufen. Ich ging den üblichen Geheimweg, den nur ich kannte. Plötzlich hörte ich einen leisen Pfiff, wie von einem Vogel. Ich sah in den Kastanienbaum über mir und Avas grüne Augen leuchteten zu mir herab. 

Als ich neben ihr saß, zeigte sie auf den unter uns liegenden Schulhof. Dort stand Fiona neben Julius, der extra cool mit seinen Kumpels rauchte. Sie himmelte ihn an, doch Julius, beachtete sie kaum. 

„Es wird immer jemanden geben, der sich für besser hält“, sagte Ava. 

„Wenn einen keiner mag, ist es eben schwierig.“ Ich hörte selbst, dass meine Stimme trotzig klang. Ich hoffte, sie würde sagen: „Ich. Ich mag dich.“ 

Aber sie hielt mir eine Kastanie hin. „Willst du die nach ihnen werfen? Sie wüssten nie, dass du es warst.“ 

Ich überlegte, schüttelte dann den Kopf. 

Sie ließ die Kastanie fallen. Ich sah ihr nach, bis sie auf der Erde aufschlug. 

„Wir sollten reingehen.“ 

Sie sah in die Blätter. „Gestern saß ich auf meinem Bett und auf ein Mal wurde die Bettdecke zum Meer. Ich konnte sogar das Salz riechen.“ 

Ich fragte: „Warum magst du Bäume so, wenn du doch das Meer vermisst?“ 

Ava zuckte die Schultern. „Sie sind von der gleichen Art.“ 

Sie sah in die Blätter.

Dann flog sie davon.

Ich habe sie nie wiedergesehen. 

WIE WOLLEN WIR LEBEN?

Was, wenn wir endlich aufhören würden, mit dem ständigen Empören?

Mit der Schuldzuweisung, dem Besserwissen, dem permanenten gegenseitigen Runtermachen?

Einfach mal aufhören, nur für einen Moment.

Und uns fragen: Wie wollen wir leben? Und vor allem: Wie wollen wir zusammenleben?

Denn unsere Gesellschaft ist gespalten. Das ist nichts Neues und ausreichend benannt.

Aber was, wenn wir auch diese Spaltung erstmal ankommen ließen mit allem, was sie mit sich bringt. 

Mit der Wut, der Empörung, der Angst, der Trauer, der Ratlosigkeit. Einfach ankommen lassen und damit sein.

Und von diesem Ort aus einander zuhörten, ohne gleich eine Antwort parat zu haben.

Empörung heißt: Ich weiß es besser als du, ergo liegst du falsch und ich rege mich laut auf und stelle mich über dich, denn damit zeige ich allen meine Überlegenheit, also mein Rechthaben, was bedeutet dass ich richtig bin in der Welt.

Funktioniert besonders gut, wenn die Abwertung witzig daherkommt. Nichts ist einfacher, als einen Verriss zu schreiben oder sich über andere Menschen lustig zu machen. Das ist die leichteste Disziplin – und sie bringt den meisten Applaus.

Aber was liegt hinter der Empörung?

Möglicherweise ein Gefühl von Unsicherheit, weil das Zulassen der Möglichkeit, dass es unterschiedliche Wahrheiten geben könnte, das eigene Fundament ins Wackeln bringt?

Oder gar ein Schmerz, weil ich dir nahe sein möchte, aber nicht zu dir durchdringe? Das macht mich sauer – und deshalb poltere ich lieber, als mich durch die Wut und den Schmerz hindurchzufühlen.

Vielleicht auch schlicht Fassungslosigkeit. Da könnte ein Mittel der Wahl sein, zu sagen: Ich bin fassungslos und wütend. Statt: Du bist ein Schwachkopf und rechts noch dazu.

Verschwörungstheorien (sofern es sich tatsächlich um solche handelt) sind ja unter anderem gesellschaftliche wie persönliche Schatten. Ins Außen projizierte Angst. 

Aber diese Angst war schon vorher da. 

Die Furcht vor Fremdbestimmung, vor Willkür, Manipulation und Abhängigkeit. 

Was, wenn wir uns, statt auf Menschen herumzuhacken, erstmal dieser Furcht zuwendeten und gemeinsam erforschten, woher sie kommt, individuell wie kollektiv?

Denn es hilft einfach nicht, Menschen in die rechte Ecke zu schieben, weil sie anderer Meinung sind, so unglücklich oder unbeholfen sie diese Meinung auch äußern mögen. 

Wenn wir diejenigen, die sich besorgt zu Wort melden allesamt niederschreien und in einen Topf werfen, spalten wir unsere Gesellschaft immer weiter. Wer sich so ungehört fühlt, wird am Ende noch wütender oder verzweifelter – daraus kann Radikalisierung entstehen. Muss natürlich nicht, die Wahl hat jede*r einzelne immer.

Aber wenn ein großer Teil der Gesellschaft sich aus ganz unterschiedlichen Gründen und nicht erst seit Corona nicht gehört fühlt, dann ist es wichtig, auch diese Stimmen anzuhören, so unangenehm, verblendet, dumm oder falsch sie in unseren Augen auch sein mögen.

Es sind nicht lauter „Idioten“, „Aluhüte“ oder „Nazis”, die gerade auf die Straße gehen, oder sich kritisch äußern. Es gibt viele kluge Köpfe, die alternative Wege zu dem Umgang mit der momentanen Situation aufzeigen. Nicht alle, natürlich nicht. Aber viele. Und es gibt Menschen, die sich mehr denn je alleingelassen fühlen und abgehängt.

Natürlich müssen wir unsere Stimme vehement erheben, wenn es um menschenverachtendes Verhalten geht. Natürlich können wir uns klar abgrenzen, wenn wir eine Meinungsäußerung falsch, verwerflich oder gar gefährlich finden. Den Menschen abwerten müssen wir aber nicht! Und natürlich müssen wir nicht jeder noch so kruden Theorie Gehör schenken oder uns alle händchenhaltend in den Park setzen und einander zuhören (andererseits: Gibt wahrscheinlich Schlechteres).

Aber wenn das nächste mal jemand, der oder die dir nahe steht, sagt, ich lass mich nicht impfen, dann frag doch einfach mal nach: Warum? Was befürchtest du? Und wenn du mutig bist gib vielleicht sogar zu: Das macht mir Angst. Oder: Dass du die Welt so anders wahrnimmst als ich, das trennt uns und das schmerzt mich. Oder: Ich werde stinkwütend, weil ich denke dein Weg führt uns noch weiter in Tod, Krankheit, Überforderung, Dauer-Lockdown. Darunter liegt Ohnmacht und die Sorge, dass das nie aufhört.

Und andererseits, wenn du jemanden sprichst, der oder die in deinen Augen ein “regierungstreues Schlafschaf“ ist, frag doch nach: Warum nimmst du die Welt so wahr? Gibt es nichts, was dich stutzig macht? Oder versuche deine Sicht zu teilen, ohne Vorbehalt und ohne von Anfang an überzeugt zu sein, dass du richtig liegst.

In einem solchen Gespräch zeigen wir uns. Dort könnten wir uns begegnen, dort kann Heilung stattfinden und Verbindung. 

Am Ende liegen wir wahrscheinlich nicht so fern. Die einen sorgen sich um ihre Kinder und halten deshalb Impfungen für die einzige Lösung, die anderen genau umgekehrt. Die einen sehen die Probleme von Kulturschaffenden und wollen deshalb harten Lockdown, damit es endlich aufhört, die anderen sofortige Öffnung aus ebendiesem Grund (und viele Positionen dazwischen).

Wie wäre es, wenn wir uns gegenseitig den Kredit gäben, dass jede*r einfach sein oder ihr Bestes gibt, selbst wenn es ein anderes „Bestes“ ist, als das unsere?

Wenn wir nicht einfach nur durchgeimpft zum alten Status Quo zurück wollen, sondern als Gesellschaft weiter kommen, vielleicht sogar an dem was wir durchlebt haben gewachsen, aufmerksamer, offener, verbundener, dann müssen wir das zusammen machen. Und diejenigen, die sich schon viel zu lange als Verlierer des Systems fühlen, mitnehmen, anstatt sie noch weiter abzudrängen. 

So naiv es auch klingen mag, ich sehe keinen anderen Weg als den Weg der Liebe.

Den Weg von Angst, Ablehnung und Trennung haben wir schon viel zu lange versucht.

CHECKLISTE

1. Zynismus hilft selten

2. Wer Polemik sät, wird Polemik ernten

3. Sich in einer außerordentlich komplexen Situation im Besitz der Wahrheit zu fühlen, sollte stutzig machen (auf allen Seiten)

4. Öl ins Feuer führt zu Verbrennungen

5. Erst denken, dann handeln ist eine gute Reihenfolge

6. Fehler sind menschlich

7. Einsicht und Kurskorrektur sind kein Zeichen von Schwäche, ebenso wenig wie Vergebung

8. Von oben herab ist keine Diskussionshaltung auf Augenhöhe (in keine Richtung)

9. Auf einstigen Helden herumtreten macht niemanden größer

10. Trennung führt zu immer mehr Trennung

EDUCATE YOUR SON

Ich liebe Männer. Nicht alle, natürlich. Aber viele. Ich liebe und bewundere auch einige ältere weiße Männer (nicht das Prinzip, aber den Menschen). Und neben aller Kritik an patriarchalen Systemen halte ich es für unbedingt wichtig, nicht in die alte Falle von Ablehnung und Degradierung zu treten. Denn: Männer sind NICHT das Patriarchat! Einige Männer unterstützen mehr oder weniger bewußt patriarchale Strukturen. Manche Frauen auch. Neben „educate your son“ sollte ebenso „educate your daughter“ stehen. Oder vielleicht weniger erziehen, als vielmehr: vorleben. Töchter, die täglich sehen, dass ihre Mütter nett lächeln, wenn sie eigentlich wütend sind oder sich klein machen (lassen) und zurückstecken, um ihr Gegenüber bloß nicht durch ihre Größe zu überfordern oder zu viel Raum einzunehmen, werden lernen, dass das der richtige Weg ist. Frauen, die zulassen, dass ihr Partner respektlos über ihre Fähigkeiten oder ihren Körper – oder den der Tochter – spricht, werden dies als hinzunehmendes Verhalten weitergeben. Väter, die Angst vor weiblicher Überformung, vor Menstruationsblut und körperlicher Veränderung haben, werden ihren Töchtern unbewußt Signale senden, ihr Frausein abzulehnen oder sich dafür zu schämen. Ähnliches gilt auch für heranwachsende Männer. Ich habe zwei Söhne und ich möchte nicht, dass sie in dem Gefühl großwerden, Unterdrücker zu sein, Vertreter eines gewaltvollen Geschlechts, dessen Sexualität abstößt und verletzt. Ich möchte, dass sie wissen, dass ihre Sexualität ebenso heilig und schön ist, wie die der Frauen. Ich möchte, dass sie ein „Nein“ als Nein annehmen können, ohne damit ihren eigenen Wert in Frage gestellt zu sehen. Ich möchte, dass sie lernen, einen Raum zu halten, für sich und andere und ihre großartige Kraft genießen. Ich möchte, dass sie sich frei fühlen in ihren Körpern und in ihrem Wesen, weil sie wissen, dass die Mädchen und Frauen, denen sie begegnen, ebenso frei sind und für sich sorgen. Ich möchte, dass sie ihre Lust integrieren und sie irgendwann in respektvollem Kontakt ausleben können, was auch immer das bedeutet. Ich möchte, dass sie es wagen, groß zu träumen, dass sie strahlen und sich zeigen, ohne sich zurückzunehmen oder zu beschränken. Weil sie wissen, dass die Frauen um sie herum ebenso groß und strahlend sind und auch sie sich nicht zurückhalten. Ein derart bewußtes Miteinander braucht Arbeit. Deshalb unbedingt: Quote. Unbedingt mehr Frauen in Kunst, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Wobei Menstruationsbeschwerden oder Schwangerschaftsübelkeit kein Tabu mehr sein dürfen, sondern vollkommen natürlich integriert werden sollte. Weil niemand von uns einfach immer gleich funktioniert, wie eine Maschine. Weil dass das Leben ist und alles Andere die Lebendigkeit und die Rhythmen der Natur negiert. Unbedingt also: Educate your son. Und: Empower your daughter. And yourself. Mehr glückliche, strahlende, kraftvolle Frauen und Männer werden mehr glückliche, strahlende, kraftvolle Kinder heranziehen, die Nein sagen und hören, wenn Nein gemeint ist. Und Ja, wenn sie Lust haben, ihr Sein oder ihre Sexualität zu teilen, mit wem auch immer. 

EMPÖRUNG

Was kommt nach der Empörung? Wenn das Gegenüber egal ist: Nichts. 

Sofern wir aber gesellschaftlich wie persönlich wachsen wollen, ist der nächste Schritt, die Verantwortung für unsere Gefühle zu übernehmen. Denn jede Abgrenzung – so legitim sie in der Sache sein mag – bedeutet auch: Trennung.

Corona, dieser große Highlighter, beleuchtet nun ja deutlicher denn je, wie viel Spaltung und Unverständnis gerade in der Welt herrscht. Wenn ich der Trennung, die ich erlebe, durch meine Reaktion noch mehr Trennung hinzufüge, bin ich nicht nur Teil des Problems – ich befeuere es noch zusätzlich.

Was wir aber alle (unter anderem) suchen ist: Verbindung.

Echte Verbindung erfordert Begegnung. Und zwar zuallererst mit uns selbst.

Ein Weg dafür ist offen sein, neugierig. Was an der Haltung / dem Thema berührt mich so stark? Und warum? Was spiegelt mir das Gegenüber? Wo liegen meine Schatten, die Anteile, die ich nicht sehen kann oder will? Was liegt hinter der ersten Reaktion? Und was dahinter? (Spoiler: Hinter der Empörung und der Wut liegt irgendwann immer die Angst. Und hinter der Angst die Liebe. As simple as that.)

Damit erstmal sein, am besten unter Bäumen.

Und dann erst, aus der Klärung, in Kontakt treten. Und zwar – sofern ich echte Verbindung suche – ohne Urteil.

Fragen: Wie erlebst du die Welt? Und warum? Was ist deine Sorge?

Und danach zuhören. Ohne etwas dazu sagen zu müssen. Ohne Recht haben zu wollen. Ohne auf den Einsatz für eine eigene Erwiderung zu warten.

Und mich am Ende bedanken.

(Der andere Weg ist: Atmen. Das Gefühl da sein lassen. Es freundlich-interessiert betrachten. Es ziehen lassen. Klingt einfacher. Ist es auch. Wirkt trotzdem.)

Das bedeutet nicht, nichts zu tun oder die Haltung oder Handlung des Gegenübers gut zu heißen. Es bedeutet: Klar zu meinen Werten zu stehen und dennoch offen zu bleiben. Nicht aus einer impulsiven Erst-Reaktion heraus zu agieren. Den Menschen nicht abzuwerten, auch wenn ich was er/sie tut oder sagt ablehne.

Sollen wir also weiter aufstehen und uns klar positionieren, wenn wir völkisch-nationalistische, rassistische oder sexistische Äußerungen hören? Wenn ein Gesetzesentwurf droht, unsere Grundrechte entscheidend zu beschneiden? Wenn unterschieden wird in system-relevant und irrelevant und ganze Berufszweige um ihre Existenz bangen? Wenn die Kriminalpolizei Solo-Selbständigen, die sich um Unterstützung bemüht haben, weil ihnen alle Einkommensquellen weggebrochen sind, mit einer Klage auf Subventionsbetrug droht, während andernorts Millionenbeträge ausgeschüttet werden? Wenn Frauen und Kinder immer mehr unter häuslicher Gewalt leiden? Wenn alte Menschen isoliert werden und alleine sterben müssen, weil es keine besseren Ideen gibt (oder diesen kein Gehör geschenkt wird)? Wenn Regenwälder abgeholzt werden? Wenn wir Zeugen werden von Hass, Gewalt und Leid?

NATÜRLICH!

Aber – und das macht den Unterschied – von einem komplett anderen Ort aus. Denn worum geht es eigentlich? Dir, mir, uns allen. Worauf können wir uns einigen? In was für einer Gemeinschaft wollen wir leben? 

Soll Angst unser Leitstern sein? Oder Friede, Freiheit, Freude, Mut, Toleranz?

Wir brauchen gerade nicht noch mehr Meinung und Schlagabtausch. Wir brauchen Menschen, die es wagen, mit den Wogen der Aufruhr im Innen und Außen still zu werden. (Stille muss dabei nicht heißen: Sitzen und schweigen. Still werden kann auch bedeuten, in die Natur zu gehen. Zu tanzen. Über den Körper in die Präsenz zu kommen. …)

Daraus kann dann der nächste Schritt entstehen, indem wir klar in unseren Werten und unserer Absicht für eine positive Vision der Welt einstehen.

Mega herausfordernd.

Aber wir sind ja nicht alleine.

Ich glaube es lohnt sich.