AVA AUF DEM BAUM – Kurzgeschichte

AVA AUF DEM BAUM  – Kurzgeschichte

Es war Herbst, als Ava in unsere Klasse kam. Ihre Haare flammenrot, flossen ihren Rücken hinab wie geschmolzenes Feuer.

Ava war anders als alle Mädchen, die ich kannte. Nicht dass ich allzu viele Mädchen näher kennen gelernt hatte. Ich war nicht schnell, nicht groß und reichlich dick. Im besten Fall beachteten mich die Mädchen nicht. Normalerweise sahen sie mich an, als würde vor ihren Augen gerade etwas Schleimiges, Ekelerregendes vorübergehen. 

Nicht so Ava. Sie sagte ein kurzes Hallo, als sie sich auf den freien Platz neben mir setzte. Nicht gerade ein Hallo, das zu einer Freundschaft einlädt, aber auch kein angewidertes Hallo. Kein Hallo, das man auch zu einer Wand sagen würde. Es war freundlich, ihre Stimme etwas rau, wie Seeluft. Nach dem Hallo sah Ava aus dem Fenster. Nichts Anderes. Ich meine: Sie holte nicht ihre Schulsachen heraus, legte sie nicht auf den Tisch, sah nicht mit betont interessiertem Ausdruck nach vorne zum Pult, während sie überlegte, ob der hübsche Julius aus der Parallelklasse sie gestern auf dem Schulhof angelächelt hatte. Sie sah aus dem Fenster, als ob sie gar nicht da wäre. 

Frau Michelsen machte natürlich Ärger. Sie war wie ein Spürhund, der sofort roch, wenn jemand nicht mit der vollen Aufmerksamkeit an ihrem Unterricht teilnahm. Dass eine Schülerin sich noch nicht mal die Mühe machte, so zu tun, als würde sie der Stunde folgen, das war zu viel für unsere Lehrerin. Sie hieb mit einem dicken Buch auf unseren Tisch, meinen und Avas. Der Knall schreckte mich aus meinen Beobachtungen. Ava aber hob nur leicht den Kopf und sah die Lehrerin fragend an. 

Ob sie uns wohl erklären könne, woran sie gerade dachte, fuhr Frau Michelsen sie an. Ava nickte. „An Robben.“ Frau Michelsen wollte konsterniert erfahren, weshalb Ava über Robben nachdachte, während wir gerade die Französische Revolution besprachen. Ava meinte, die Robben seien eben in ihrem Kopf, viel weiter vorne als Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Frau Michelsen war beeindruckt, da Ava offenbar doch etwas von ihrem Unterricht mitbekommen hatte. Sie riet ihr, sich den Robben ab– und der Revolution zuzuwenden. Ava lächelte leicht – und sah wieder zum Fenster hinaus.

Frau Michelsen ging zurück an die Tafel, während ich dieses seltsame Mädchen verstohlen musterte. Ich hätte hundert Fragen gehabt, aber wenn man auf der Abschussliste der Lehrerin steht, hält man sich mit geflüsterten Fragen besser zurück. 

Nach der Schule sah ich Ava davongehen, eine bunte, sackartige Tasche über der Schulter. Die anderen aus der Klasse blickten ihr hinterher. Fiona kreiste mit dem Finger am Kopf, um zu zeigen, dass die Neue eine Schraube locker hatte. Die Anderen lachten. Als sie mich sah, blähte Fiona die Backen auf und machte Affengeräusche. „Was glotzt du so, Brummi?“ Brummi, so nannten sie mich. Dommi, Dummi, Brummi. Ich senkte den Kopf und ging, bevor sie Kastanien aufheben konnten, für das Spiel „trefft den Dummi“. 

Ohne zu wissen weshalb, folgte ich Ava. Ich sah ihre roten Locken ein gutes Stück vor mir leuchten. Sie bog in den Stadtpark ein und ich dachte noch, wie perfekt ihre Haare zu den Farben der Herbstbäume passten. 

Dann war sie verschwunden. Ich blickte mich suchend um, bis ich ihre Tasche unter einem Baum lehnen sah. Ich legte den Kopf in den Nacken und da war Ava, weit oben in der Baumkrone. Sie lag mit dem Rücken auf einem Ast, ihre Beine hingen herunter. Es sah abenteuerlich aus, doch Ava war offensichtlich ohne Furcht. Im Gegensatz zu mir, dem schon beim Balancieren auf einer niedrigen Mauer schlecht wurde.

Ich weiß bis heute nicht, weshalb, doch aus irgendeinem Grund begann ich, ebenfalls auf den Baum zu steigen. Ich schwitzte und verlor immer wieder fast den Halt. Ava muss mich gehört haben. Ich habe geklungen wie eine Dampfmaschine. Sie sah nicht auf. 

Irgendwann saß ich auf einem Ast in ihrer Nähe. Ich musste erst zu Atem kommen.

„Hallo“, sagte ich. „Ich bin Dominik.“ 

„Ich weiß“, erwiderte sie schlicht. Keine Frage, warum ich dort war. 

„Was machst du hier?“ 

„Man ist dem Himmel so nah“, sagte Ava. 

„Kletterst du oft auf Bäume?“ 

Sie schwieg für eine kleine Weile. „Ich hab erst hier damit angefangen. Dort wo ich herkomme gibt es keine Bäume.“ 

Ich fragte, woher sie kam. 

„Von einer Insel. Einer Insel im Meer, das im Winter zufriert.“ 

„Leben dort deine Robben?“ 

Sie nickte. „Ganze Familien.“

„Ich habe noch nie eine Robbe gesehen“, meinte ich. 

„Dafür kennst du die Bäume.“ 

Ich schaute weg. „Eigentlich bin ich heute zum ersten Mal auf einen Baum gestiegen.“ 

Ava lachte leise. „Wie merkwürdig.“ 

Fast wurde ich wütend. Merkwürdig, ja, das musste sie gerade sagen. Ich machte mich daran, den Baum hinab zu steigen. 

„Bleib doch noch“, sagte Ava. 

Und ich blieb. 

Wir saßen schweigend, jeder auf seinem Ast. 

Und Ava fing an zu erzählen. Davon, dass sie sich in ihrer Familie fremd gefühlt hatte, bis ihre Mutter erzählte, dass sie Ava am Strand gefunden hat, irgendwo auf einer der hohen, weißen Dünen. Ava hätte dort gelegen wie ein kleines Tier, halb eingegraben im hellen Sand, nur herausleuchtend durch ihre schon als Baby so roten Haare. Sie hatte sich weggeträumt, zu der anderen Familie, die sie dort verloren hatte. Hatte sich vorgestellt, wie ihre richtige Mutter sie suchen würde, Tag um Tag. Als ihr Vater den Job als Fremdenführer verloren hatte, mussten sie die Insel verlassen und sind hierhergekommen, in die Stadt. 

„Nun werden sie mich nie mehr finden.“ 

Ihre Stimme klang traurig. Ich hätte sie gerne getröstet, aber wie tröstet man ein Mädchen, noch dazu, wenn man sich an einem Baumstamm festkrallt, darum betet, nicht runter zu fallen und langsam immer dringender aufs Klo muss?

„Ich muss nach hause“, sagte ich. 

Ava sah auf. „Schon?“ 

Es klang bedauernd und das machte mich froh. 

„Wir sehen uns morgen.“ Ich kletterte langsam und schnaufend nach unten, wo mein Ranzen neben Avas bunter Tasche lehnte, als teilten sie ein Geheimnis. 

Am nächsten Morgen kam ich zur Schule, möglichst spät wie immer, um den Anderen nicht die Möglichkeit zu geben, mir Gemeinheiten hinterher zu rufen. Ich ging den üblichen Geheimweg, den nur ich kannte. Plötzlich hörte ich einen leisen Pfiff, wie von einem Vogel. Ich sah in den Kastanienbaum über mir und Avas grüne Augen leuchteten zu mir herab. 

Als ich neben ihr saß, zeigte sie auf den unter uns liegenden Schulhof. Dort stand Fiona neben Julius, der extra cool mit seinen Kumpels rauchte. Sie himmelte ihn an, doch Julius, beachtete sie kaum. 

„Es wird immer jemanden geben, der sich für besser hält“, sagte Ava. 

„Wenn einen keiner mag, ist es eben schwierig.“ Ich hörte selbst, dass meine Stimme trotzig klang. Ich hoffte, sie würde sagen: „Ich. Ich mag dich.“ 

Aber sie hielt mir eine Kastanie hin. „Willst du die nach ihnen werfen? Sie wüssten nie, dass du es warst.“ 

Ich überlegte, schüttelte dann den Kopf. 

Sie ließ die Kastanie fallen. Ich sah ihr nach, bis sie auf der Erde aufschlug. 

„Wir sollten reingehen.“ 

Sie sah in die Blätter. „Gestern saß ich auf meinem Bett und auf ein Mal wurde die Bettdecke zum Meer. Ich konnte sogar das Salz riechen.“ 

Ich fragte: „Warum magst du Bäume so, wenn du doch das Meer vermisst?“ 

Ava zuckte die Schultern. „Sie sind von der gleichen Art.“ 

Sie sah in die Blätter.

Dann flog sie davon.

Ich habe sie nie wiedergesehen.