RAVI (Auszug aus dem Theaterstück „29“)

RAVI (Auszug aus dem Theaterstück „29“)

Ravi ist 8 Jahre alt, er arbeitet seit zwei Jahren auf einer Baumwollplantage. Die Arbeit ist hart, der Lohn niedrig, doch es ist Geld und die Familie braucht das Geld.

Vish, der Chef auf der Plantage ist böse, denn er lässt Ravi dort arbeiten!

Lali, Ravis Mutter hat Vish angefleht, dass er Ravi Arbeit gibt. Sie sich vor ihn gekniet und seine Füße berührt. Deshalb hat er Ravi genommen, obwohl sechs Jahre schon sehr jung waren und die Arbeit hart.

Lali ist böse, denn sie schickt ihren kleinen Sohn zum Arbeiten.

Lali hat sechs Kinder geboren, sie war immer arm, doch nie so, denn Ravis Vater Mohd ist krank. Mohds Lunge ist durch die Arbeit in der Färberei löchrig, das Haus aus Wellblech ist feucht, immerhin haben sie ein Dach. Deshalb hat Lali ihren Ravi, der stark ist, zum Arbeiten geschickt und sie weint jeden Morgen, wenn er losgeht, hinter ihrem Sari, damit es keiner sieht. Das Geld das Ravi bringt, hilft der Familie zu leben.

Also ist der Mann böse, der Ravis Vater in der Färberei arbeiten ließ, in den giftigen Dämpfen ohne Schutzkleidung.

Der Mann heißt Jamal und er hat gekämpft, um dort anzukommen, wo er heute ist. Jamals Eltern starben früh, an Tuberkulose, er lag auf einem Pappkarton am Straßenrand, bis er von einer Familie aufgenommen wurde, die kaum selbst genug zu essen hatte. Jamal war fleißig, er hat gelernt – vor allem zu kämpfen, um zu überleben. Weil er klein war, wurde er von anderen Jungs geschlagen, oft. Jamal hat sich durchgebissen. Erst hat auch er mit giftiger Farbe gearbeitet, dann wurde er befördert, weil er härter arbeitete und länger blieb als die anderen. Jamal hat eine Frau und drei Kinder, die es einmal besser haben sollen.

Nun wissen wir es: Der Vorarbeiter, der Jamal angestellt hat, der ist böse.

Der Vorarbeiter kennt Jamal als guten Arbeiter. Eigentlich gehört Jamal einer niedrigeren Kaste an, doch der Vorarbeiter hat ihm eine Chance gegeben. Er wollte etwas Gutes tun, auch wenn hundert andere für den Job Schlange standen.

Der Besitzer der Fabrik, der mit Menschen wie Jamal und Mohd Geld verdient, der ist böse.

Der Besitzer Sanjay wurde auserwählt, mit seiner kleinen Firma großes Geld zu verdienen, von einem Mann aus dem Westen. Der Mann aus dem Westen hat ihn gefragt: Kannst du es für weniger machen? Sanjay nickte, weil er den Auftrag brauchte, um den Angestellten Gehalt zu zahlen, um seine Kinder auf gute Schulen zu schicken, um sich einen Wagen zu kaufen, von dem er als Junge geträumt hat. Einen Wagen, wie ihn die Männer im Westen fahren und mit dem er die junge Frau, die ihn liebt, was keiner wissen darf, schon gar nicht die traurige Frau, die seine Eltern für ihn ausgesucht haben, zu einem Ausflug fahren kann.

Der Mann aus dem Westen heißt Carsten. Carsten mit dem Geldkoffer ist böse.

Carsten hat den Auftrag, das Geschäft auszulagern von seinem Chef bekommen, der ihn von seinem Chef bekommen, der ihn von seinem Chef bekommen hat.

Weil die Chefs Geld verdienen wollen und ihre Arbeit Möglichkeiten bot. Weil sie Träume hatten und Indien so weit weg ist. Weil ihnen zugesichert wurde, dass es schon okay ist, weil Ravi nickt und sagt es geht ihm gut, weil Mohd nickt und sagt es geht ihm gut und Jamal nickt und allen geht es gut.

Die Chefs hätten hinschauen müssen, sie sind böse.

Welcher Chef genau? Oder alle zusammen? Wer ist mehr böse? Und wenn sie schauen würden? Dann müssten sie sagen: So geht das nicht. Und verlangen, dass Ravi nicht auf dem Feld arbeitet und kein Geld verdient und seine Familie nicht unterstützen kann und Mohd damals keine giftige Arbeit bekommen hätte oder Schutzkleidung. Doch Schutzkleidung hätte Jamal nicht fordern können von Sanjay, denn da warteten hundert andere, die seinen Job gemacht hätten ohne Schutzkleidung.

Die Chefs hätten von Sanjay die Schutzkleidung fordern müssen. Sanjay hätte den Chefs gesagt: Dann werden die Stoffe teurer. Und die Chefs hätten in die Läden gehen und die T-Shirts teurer machen müssen und die Menschen wären in die anderen Läden gegangen, in denen sie nicht für Schutzkleidung am anderen Ende der Welt zahlen müssten. Und die Chefs hätten Verluste gemacht und am Ende Sanjays Fabrik schließen müssen und was wäre gewesen mit den Menschen in Indien?

Also sind die Menschen böse, die billige Sachen kaufen ohne nachzudenken, Helga zum Beispiel, die gerade ein rotes Kleid anprobiert, dessen Baumwolle Ravi gepflückt hat, dessen Farbe Mohd und seinen Kollegen die Lungenflügel durchlöchert hat.

Helga ist böse.

Helga hat heute Abend ein Date. Helga hatte lange kein Date mehr, seit sie verlassen wurde und alleine ist mit den Kindern und nicht weiß, wie sie das alles stemmen soll, besonders nicht den Alkohol, der ihr Trost spendet, aber natürlich ein Problem ist. Helga will schön aussehen, weil ein Date, das könnte bedeuten, dass Helga eine neue Chance bekommt auf ein anderes Leben. Helga hat kein Geld für ein Kleid, das Konto ist überzogen, der Jüngste braucht Fußballschuhe. Helga weiß, dass nebenan ein anderes rotes Kleid hängt, an dem ein Zettel baumelt mit Fair Trade Zeichen. Helgas weiß, dass es besser wäre, dieses Kleid zu kaufen, aber wenn sie das günstigere rote Kleid nimmt, kann sie ein hübsches Höschen dazulegen, dann könnte sie dem Mann gefallen.

Hah, sagt ihr, Helga vielleicht, aber was ist mit Tom und Lena und Anna, die gerade shoppen gehen, ohne Probleme und trotzdem nicht nebenan?

Sind Tom und Lena und Anna nicht böse?

Sie sammeln zwar Spenden und geben Geld auf der Straße, aber dann ignorieren sie das Fair Trade Schild. Dabei hat Anna schon zwei rote Kleider und Lena drei sogar.

Tom und Lena und Anna wollen gut aussehen. Sie wollen zeigen, dass sie jung sind und schön und weil jeder in ihrer Klasse jeden Tag neue Klamotten trägt und alle peinlich und Scheiße sind, die das nicht tun, machen sie mit. Sie trauen sich nicht, zu sagen: Ich brauche nicht so viel, weil sie dazu gehören wollen.

Was wissen Tom und Lena und Anna von Ravi, der so weit weg ist. Wenn sie eine Dokumentation im Fernsehen sehen, macht es sie traurig und sie schalten ab, oder unterschreiben eine Petition.

Aber wenn sie das teurere Kleid kaufen, wird dann der Kreislauf zurückdrehen, so dass Ravi in die Schule gehen kann? Oder ist doch irgendwo einer, der böse ist und der Schuld ist und deswegen bringt es nichts, mehr Geld auszugeben, weil das nur in der Tasche des Bösen verschwindet und Ravi bleibt wo er ist?

Das weiß keiner. Und weil es keiner weiß, macht Handeln wenig Sinn. Und deshalb bleibt alles wie es ist, das Böse ist schuld. Und alle haben verloren, irgendwie, nur Ravi, der ein bisschen mehr.