DAS MEER

DAS MEER

Erinn sieht Klaus an. Wo ist das Meer? Klaus versteht sie nicht. Es ist früh am Morgen. Sechs Uhr. Noch immer dröhnen seine Trommelfelle von den Bässen. Erinn hat vor den Boxen getanzt. Natürlich musste er zu ihr. Noch immer sind kleine Schweißtropfen in den kurzen Haaren an ihrer Stirn zu sehen. Sie hat ihren Kopf hin und her geworfen zur Musik. Schnell. Wütend. Wunderschön. Zwischendurch hat sie einem der Männer, die sich gewollt unauffällig in ihrer Nähe herumdrückten, das Glas aus der Hand genommen und mit ihren Augen geblitzt. Mit ihren Augen geblitzt. Das klingt ja so bescheuert. Aber irgendwie stimmt es. Aus ihren Augen schossen Blitze und so erhob keiner Einspruch, als sie den teuren Alkohol in ihren roten Mund kippte. Klaus war pleite bis auf sein Hemd, doch als sie auf ihn zugekommen war, hatte er sein Glas hingehalten, ohne zu zögern und ohne dass sie ihn anblitzen musste. Das hätte er nicht gewollt. 

Und jetzt sitzen sie nebeneinander auf einer Bank. Über ihnen der Himmel. Der Himmel über ihnen. Der Himmel über Berlin.

Und Erinn fragt wo ist das Meer. Klaus könnte sagen: Bei Warnemünde. Doch was soll das. Sie kommt von dort oben und hatte das Meer vor der Haustür. Hatte das Meer vor der Tür seit sie denken kann. Wellen, die sich an den Felsen unter dem Haus ihrer Eltern brachen. Das hat sie erzählt und mit den Händen beschrieben, wie die Wellen gegen die Steine schlugen. Was bedeutet Warnemünde für sie. 

Klaus sagt, das Meer liegt dort hinten. Er fragt, ob sie es hört. Erinn legt die Stirn in Falten und lauscht. Er stellt sich dieses Lauschen vor, hoch oben im Norden. Ein stilles Lauschen. Ein Zuhören wie er es noch nie gesehen hat. Sie nimmt es ernst, das Zuhören. In Berlin nimmt es keiner ernst. Wie auch. Man kann nicht zuhören. Wenn man zuhört wird man wahnsinnig. Erinn schüttelt den Kopf. Sie sagt, sie hört die Bäume, den Atem der Vögel. Sie sagt, sie riecht die Erde, das Gras, den unter einer alten Decke schlafenden Mann. Kein Meer. Sie sagt es fast erstaunt. Eher wie eine Feststellung. Klaus will sich verteidigen. 

Er sagt, das wisse doch jedes Kind, dass es in Berlin kein Meer gibt. Erinn sieht ihn an. Sie sagt nichts. Klaus hält das Schweigen nicht aus. Es strengt ihn an. Er nimmt Worte zu Hilfe. Erklärt die Lage von Berlin in Deutschland, sagt, wo das Meer ist. Erinn schweigt. Klaus versucht die Stille von ihren Lippen zu küssen. Erinn weicht zurück. Sie fragt ihn was das soll. Klaus redet von Anziehungskraft, von Magie, von einem Kuss. Erinn sagt, man kann nicht küssen um abzulenken. Zumindest nicht sie küssen. 

Dann geht Erinn. Und mit ihr das Meer.