Was, wenn wir endlich aufhören würden, mit dem ständigen Empören?
Mit der Schuldzuweisung, dem Besserwissen, dem permanenten gegenseitigen Runtermachen?
Einfach mal aufhören, nur für einen Moment.
Und uns fragen: Wie wollen wir leben? Und vor allem: Wie wollen wir zusammenleben?
Denn unsere Gesellschaft ist gespalten. Das ist nichts Neues und ausreichend benannt.
Aber was, wenn wir auch diese Spaltung erstmal ankommen ließen mit allem, was sie mit sich bringt.
Mit der Wut, der Empörung, der Angst, der Trauer, der Ratlosigkeit. Einfach ankommen lassen und damit sein.
Und von diesem Ort aus einander zuhörten, ohne gleich eine Antwort parat zu haben.
Empörung heißt: Ich weiß es besser als du, ergo liegst du falsch und ich rege mich laut auf und stelle mich über dich, denn damit zeige ich allen meine Überlegenheit, also mein Rechthaben, was bedeutet dass ich richtig bin in der Welt.
Funktioniert besonders gut, wenn die Abwertung witzig daherkommt. Nichts ist einfacher, als einen Verriss zu schreiben oder sich über andere Menschen lustig zu machen. Das ist die leichteste Disziplin – und sie bringt den meisten Applaus.
Aber was liegt hinter der Empörung?
Möglicherweise ein Gefühl von Unsicherheit, weil das Zulassen der Möglichkeit, dass es unterschiedliche Wahrheiten geben könnte, das eigene Fundament ins Wackeln bringt?
Oder gar ein Schmerz, weil ich dir nahe sein möchte, aber nicht zu dir durchdringe? Das macht mich sauer – und deshalb poltere ich lieber, als mich durch die Wut und den Schmerz hindurchzufühlen.
Vielleicht auch schlicht Fassungslosigkeit. Da könnte ein Mittel der Wahl sein, zu sagen: Ich bin fassungslos und wütend. Statt: Du bist ein Schwachkopf und rechts noch dazu.
Verschwörungstheorien (sofern es sich tatsächlich um solche handelt) sind ja unter anderem gesellschaftliche wie persönliche Schatten. Ins Außen projizierte Angst.
Aber diese Angst war schon vorher da.
Die Furcht vor Fremdbestimmung, vor Willkür, Manipulation und Abhängigkeit.
Was, wenn wir uns, statt auf Menschen herumzuhacken, erstmal dieser Furcht zuwendeten und gemeinsam erforschten, woher sie kommt, individuell wie kollektiv?
Denn es hilft einfach nicht, Menschen in die rechte Ecke zu schieben, weil sie anderer Meinung sind, so unglücklich oder unbeholfen sie diese Meinung auch äußern mögen.
Wenn wir diejenigen, die sich besorgt zu Wort melden allesamt niederschreien und in einen Topf werfen, spalten wir unsere Gesellschaft immer weiter. Wer sich so ungehört fühlt, wird am Ende noch wütender oder verzweifelter – daraus kann Radikalisierung entstehen. Muss natürlich nicht, die Wahl hat jede*r einzelne immer.
Aber wenn ein großer Teil der Gesellschaft sich aus ganz unterschiedlichen Gründen und nicht erst seit Corona nicht gehört fühlt, dann ist es wichtig, auch diese Stimmen anzuhören, so unangenehm, verblendet, dumm oder falsch sie in unseren Augen auch sein mögen.
Es sind nicht lauter „Idioten“, „Aluhüte“ oder „Nazis“, die gerade auf die Straße gehen, oder sich kritisch äußern. Es gibt viele kluge Köpfe, die alternative Wege zu dem Umgang mit der momentanen Situation aufzeigen. Nicht alle, natürlich nicht. Aber viele. Und es gibt Menschen, die sich mehr denn je alleingelassen fühlen und abgehängt.
Natürlich müssen wir unsere Stimme vehement erheben, wenn es um menschenverachtendes Verhalten geht. Natürlich können wir uns klar abgrenzen, wenn wir eine Meinungsäußerung falsch, verwerflich oder gar gefährlich finden. Den Menschen abwerten müssen wir aber nicht! Und natürlich müssen wir nicht jeder noch so kruden Theorie Gehör schenken oder uns alle händchenhaltend in den Park setzen und einander zuhören (andererseits: Gibt wahrscheinlich Schlechteres).
Aber wenn das nächste mal jemand, der oder die dir nahe steht, sagt, ich lass mich nicht impfen, dann frag doch einfach mal nach: Warum? Was befürchtest du? Und wenn du mutig bist gib vielleicht sogar zu: Das macht mir Angst. Oder: Dass du die Welt so anders wahrnimmst als ich, das trennt uns und das schmerzt mich. Oder: Ich werde stinkwütend, weil ich denke dein Weg führt uns noch weiter in Tod, Krankheit, Überforderung, Dauer-Lockdown. Darunter liegt Ohnmacht und die Sorge, dass das nie aufhört.
Und andererseits, wenn du jemanden sprichst, der oder die in deinen Augen ein „regierungstreues Schlafschaf“ ist, frag doch nach: Warum nimmst du die Welt so wahr? Gibt es nichts, was dich stutzig macht? Oder versuche deine Sicht zu teilen, ohne Vorbehalt und ohne von Anfang an überzeugt zu sein, dass du richtig liegst.
In einem solchen Gespräch zeigen wir uns. Dort könnten wir uns begegnen, dort kann Heilung stattfinden und Verbindung.
Am Ende liegen wir wahrscheinlich nicht so fern. Die einen sorgen sich um ihre Kinder und halten deshalb Impfungen für die einzige Lösung, die anderen genau umgekehrt. Die einen sehen die Probleme von Kulturschaffenden und wollen deshalb harten Lockdown, damit es endlich aufhört, die anderen sofortige Öffnung aus ebendiesem Grund (und viele Positionen dazwischen).
Wie wäre es, wenn wir uns gegenseitig den Kredit gäben, dass jede*r einfach sein oder ihr Bestes gibt, selbst wenn es ein anderes „Bestes“ ist, als das unsere?
Wenn wir nicht einfach nur durchgeimpft zum alten Status Quo zurück wollen, sondern als Gesellschaft weiter kommen, vielleicht sogar an dem was wir durchlebt haben gewachsen, aufmerksamer, offener, verbundener, dann müssen wir das zusammen machen. Und diejenigen, die sich schon viel zu lange als Verlierer des Systems fühlen, mitnehmen, anstatt sie noch weiter abzudrängen.
So naiv es auch klingen mag, ich sehe keinen anderen Weg als den Weg der Liebe.
Den Weg von Angst, Ablehnung und Trennung haben wir schon viel zu lange versucht.